kulturweit-Erfahrungsbericht: Bolivien im Umbruch | Freiwilligendienst kulturweit | DW | 21.02.2020
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Freiwilligendienst kulturweit

kulturweit-Erfahrungsbericht: Bolivien im Umbruch

Kontroverse Wahlen, Proteste und ein flüchtiger Präsident: In sechs Monaten als kulturweit-Freiwilliger in La Paz erlebte Aaron Wörz die Auswirkungen der politischen Krise in Bolivien. Hier teilt er seine Erfahrungen.

Eine Demonstration von Morales-Gegnern im November 2019

Eine Demonstration von Morales-Gegnern im November 2019

Bei strahlendem Sonnenschein, autofreien Straßen und Essensständen auf den Bordsteinen von La Paz war es am 20. Oktober 2019 nur schwer vorstellbar, welches politische Erdbeben die bolivianische Präsidentschafts- und Parlamentswahl auslösen würde. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich noch keine vier Wochen als Freiwilliger für die Fundación para el Periodismo, wo ich bei der Konzeption und Durchführung von Fortbildungen für Journalistinnen und Journalisten half, Pressemitteilungen verfasste und einen Einblick in die Arbeit des Faktencheck-Teams von Bolivia verifica erhielt. Für die zweitgrößte Tageszeitung des Landes, "Página Siete", war ich am Wahltag als Reporter unterwegs und verfolgte mit Spannung die öffentliche Stimmenauszählung in einem Wahllokal.

Gondeln in La Paz

Gondeln in La Paz

Was auf den ersten Blick wie ein Fest der Demokratie schien, drohte bereits am selben Abend zum Albtraum aller Befürworterinnen und Befürworter eines demokratischen Systems zu werden. Nachdem die Auszählung der Stimmen abrupt und ohne plausible Erklärung der Wahlbehörde unterbrochen wurde, erklärte sich Ex-Präsident Evo Morales zum Sieger der Wahl – obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle Wählerstimmen ausgezählt waren. Keine 24 Stunden später verabredeten sich bereits wütende Menschen über Facebook und WhatsApp, um auf den Straßen von La Paz lautstark "Wahlbetrug" zu skandieren.

Aaron Wörz bei der Arbeit für die Fundación para el Periodísmo

Aaron Wörz bei der Arbeit für die Fundación para el Periodísmo

Gewalt gegen Demonstrierende und Druck auf Journalistinnen und Journalisten

Bereits in den ersten Tagen nach der Wahl begann die Opposition mit Straßenblockaden. Nachbarschaften organisierten sich über soziale Netzwerke und blockierten wichtige Hauptverkehrsstraßen, um so Druck auf die Regierung auszuüben. Den Blockaden folgten mehrtägige Generalstreiks und das zunächst friedliche Protestklima fing langsam an zu kippen, nachdem Morales seine Anhänger aufgefordert hatte, "die Demokratie auf der Straße zu verteidigen". Die Dynamik war eine besondere: Einerseits zeigte sich die Polizei erkennbaren Pressevertreterinnen und -vertretern gegenüber sehr kooperativ, andererseits sparte sie nicht beim rücksichtslosen Einsatz von Tränengas gegen die Demonstrierenden.

Panik und Angst vor Angriffen politisch Andersdenkender machten die Runde. Befeuert wurde diese Angst durch tausende Falschmeldungen, Fotos und Videos, die vor allem auf Facebook und über WhatsApp geteilt wurden. Diese Desinformationskampagnen waren auch deshalb erfolgreich, weil in der bolivianischen Medienlandschaft neutrale Berichterstattung die Ausnahme ist: Nahezu alle Medien verfolgen unverhohlen ein politisches Interesse. Die politische Spaltung des Landes und die zunehmende Gewalt wirkten sich so auch auf die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten aus: Wer aus Sicht von aufgebrachten Demonstrierenden für das falsche Medium arbeitete, bekam das zu spüren.

kulturweit-Freiwilliger Aaron Wörz auf dem Huayna Potosí in den Anden

kulturweit-Freiwilliger Aaron Wörz auf dem Huayna Potosí in den Anden

Veränderungen über Nacht

Verblüffend war die Geschwindigkeit, mit der sich die Machtverhältnisse innerhalb einer Nacht veränderten. Ich war auf dem Rückweg von der Besteigung des 6088 Meter hohen "Huayna Potosí" und traute meinen Ohren kaum, als der Fahrer erzählte, dass sich die Polizei auf nationaler Ebene auf die Seite der Opposition gestellt hatte. Nun war plötzlich das Militär zuständig für die nationale Sicherheit und erklärte, nicht gegen das eigene Volk vorzugehen. Noch am selben Tag folgte Morales der Empfehlung der obersten Militärs, zum Schutz des nationalen Friedens zurückzutreten - nach 14 Jahren an der Macht.

In der Nacht nach Morales' Flucht ins Exil kam es zu heftigen Ausschreitungen. Anhänger des Ex-Präsidenten sprachen von einem gemeinsamen Putsch von Militär und Opposition. Militärflugzeuge kreisten über La Paz und das Grauen vor einem Bürgerkrieg breitete sich aus. Die bis dahin eher unbekannte Jeanine Áñez wurde von einem dezimierten Parlament zur Übergangspräsidentin gewählt. Die Neuwahlen am 3. Mai 2020 werden zeigen, in welche politische Richtung Bolivien in Zukunft steuert und ob es zu einem Nachbeben der Ereignisse aus dem vergangenen Herbst kommen wird.

 

Aaron Wörz arbeitete von September 2019 bis März 2020 als kulturweit-Freiwilliger der DW Akademie bei der Partnerorganisation Fundación para el Periodismo in La Paz, Bolivien.

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