Tagebuch eines Exiljournalisten: Notizen aus Vilnius | Space for Freedom | DW | 17.02.2023
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Space for Freedom

Tagebuch eines Exiljournalisten: Notizen aus Vilnius

Nach Beginn des Krieges in der Ukraine verließ unser Gastautor* im März 2022 Russland – ebenso wie viele weitere Journalistinnen und Journalisten. Seitdem lebt und arbeitet er im Exil. Dies ist seine Geschichte.

*In dieser Reihe veröffentlichen wir persönliche Tagebucheinträge von Journalistinnen und Journalisten aus Russland, der Ukraine, Belarus und Afghanistan, die im Exil leben und arbeiten. Sie sprechen über ihr neues Leben und die persönlichen und beruflichen Herausforderungen. Um die Sicherheit aller Projekteilnehmenden und ihrer Familien zu gewährleisten, veröffentlichen wir alle Texte in dieser Reihe anonym. Der Protagonist/die Protagonistin dieses Textes nimmt am Space for Freedom-Projekt der DW Akademie teil.  
 

Herkunftsland: Russland 

Berufsbezeichnung: Reporter 

 
Der Krieg in der Ukraine begann am 24. Februar 2022. Ich war zu diesem Zeitpunkt auf einer Dienstreise im Norden Russlands und drehte einen Beitrag über die Geschichte der Gulags. Unsere Pläne mussten wir umgehend ändern. Und am 27. Februar machte ich mich auf den Weg zur ukrainisch-russischen Grenze. Ich schrieb einen Bericht über das Leben der Menschen dort. Überall in den Straßen der Dörfer und Städte standen damals russische Panzer.  

Das war meine letzte Dienstreise innerhalb Russlands, und mein letzter Text über Russland. Am 4. März habe ich das Land verlassen. Seitdem lebe ich in Litauen.  

Frühling und Sommer waren emotional sehr schwierig für mich. Ich brauchte viel Kraft, um weiterzumachen und nicht durchzudrehen, angesichts der schlimmen Nachrichten, die uns aus der Ukraine erreichten. 

Ich hatte schon früher im Leben Phasen, in denen ich nicht arbeiten konnte oder wollte. Und ich habe gelernt, damit umzugehen. Es ist einfach: “Du musst die Arbeit loswerden, die dich nervt, und mehr von dem machen, was du wirklich magst“, habe ich mir selbst gesagt. Ich habe schon immer gerne mit Sound gearbeitet, also habe ich beschlossen, einen Podcast über russische Menschen zu machen, die gegen den Krieg sind. 

Russland erfährt gerade wie viele andere Länder einen Podcast-Boom. Es gibt inzwischen mehr als 14.000 Podcasts, die auf der populären Podcast-Plattform Yandex Music Catalog aufgeführt sind, und die Mehrheit von ihnen sind einfach produziert: Zwei Menschen sprechen miteinander im Studio oder stellen einem Gast Fragen. Aber ich wollte nicht noch einer dieser 14.000 sein. Ich wollte einen anderen Podcast produzieren. 
 
Meine erste Regel lautet: Keine Gespräche im Studio. Alle Interviews müssen „auf dem Feld“ aufgenommen werden – im Haus meiner Gesprächspartnerinnen und -partner, auf der Straße, an einem Ort, der ihnen etwas bedeutet. Anschließend füge ich Töne und Zwischengeräusche hinzu. Das hilft dabei, meine Gäste noch persönlicher vorzustellen. Die erste Episode meines Podcasts habe ich im September veröffentlicht. 

Ich bin mit Leib und Seele Reporter und habe wieder angefangen, an verschiedene Orte zu reisen und mit unterschiedlichen Menschen zu sprechen. Aber jetzt reise ich eben innerhalb Europas.  
 
Natürlich ist die Produktion eines solchen Podcasts kompliziert: Ich muss passende Protagonistinnen und Protagonisten finden, viel recherchieren, einen Ort (oder mehrere Orte) für die Aufnahmen finden, Interviews vorbereiten, Töne aufnehmen, die Audio-Aufnahmen anhören, Scripte schreiben, mit einem Redakteur oder einer Redakteurin und Anwälten sprechen. Ich muss über die Verbreitung nachdenken. Ich mache das alles alleine. Aber es macht mir Spaß.  
 
Ich weiß, dass mein Podcast anders ist, als die große Mehrheit der Podcasts in Russland. Ja, er hat sicherlich auch Schwächen, aber ich bin sicher: Jede neue Folge ist besser als die davor. Die russisch-englische Nachrichtenwebsite Meduza hat ihn 2022 in ihrer Liste der der bedeutendsten russischen Podcasts aufgeführt. 

 

Die DW Akademie führt das Projekt “Space for Freedom” als Netzwerkpartner der Hannah-Arendt-Initiative der Bundesregierung durch. Mit der Initiative unterstützen das Auswärtige Amt und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien Journalistinnen und Journalisten, Medienschaffende sowie Verteidigerinnen und Verteidiger der Meinungsfreiheit, in Krisen- und Konfliktgebieten im Ausland und im Exil.